Die jüngst erfolgten umfassenden Änderungen des Zivilgesetzbu- ches (ZGB) haben das Oberste Gericht der Russischen Föderation veranlasst, Erläuterungen¹ zur Haftung bei Pflichtverletzung zu er- arbeiten. Diese Frage stellt sich in fast jedem Gerichtsverfahren.

Nachfolgend werden die wichtigsten Bestimmungen der Erläuterun- gen vorgestellt. Sie dürften in der aktuellen schwierigen wirtschaft- lichen Situation helfen, einen böswilligen Geschäftspartner zur Haf- tung heranzuziehen.

1. Schadenersatz

Das Oberste Gericht bestätigt, dass nach allgemeiner Regel der Schadenersatz vorrangig dem Schutz des Erfüllungsinteresses des Gläubigers dient. Er ist durch den Schadenersatz so zu stellen als hätte der Schuldner seine Verpflichtung ordnungsgemäß erfüllt. Das Oberste Gericht setzt damit die Tendenz fort, den Nachweis für Ver- luste zu erleichtern.

Besondere  Vorschriften  gelten  bei  unlauterer  Verhandlungsfüh- rung oder einem Abbruch der Verhandlungen. In diesem Fall ist das Vertrauensinteresse zu erstatten: Der Geschädigte ist also so zu stellen, als wäre er nie in Verhandlungen mit dem böswilligen Ge- schäftspartner getreten. So können etwa Kosten zur Organisation der Verhandlungen und zur Vorbereitung auf den Vertragsabschluss (Dienstreisen, Raummiete, Beraterhonorare) verlangt werden. Eben- falls zu erstatten sind Schäden, weil es nicht möglich war, den Ver- trag mit einem Dritten abzuschließen.

2. Entgangener Gewinn

Das Oberste Gericht weist besonders darauf hin, dass bei der Berech- nung des entgangenen Gewinns angemessene Kosten zur Sicherung von Einnahmen zu berücksichtigen sind. Folgende Auslegung der Po- sition des Obersten Gerichts ist möglich:

  • Hat der geschädigte Gläubiger keine Ausgaben zum Erhalt zu- künftiger Einnahmen getätigt (kann allerdings konkrete Hand- lungen und Vorbereitungen zur Einnahmenerzielung nach- weisen), entspricht die Höhe des entgangenen Gewinns der he des möglichen Gewinns (mögliche Einnahmen abzüglich nicht getätigter angemessener und erforderlicher Ausgaben);
  • Hat ein Gläubiger alle erforderlichen und angemessenen Aus- gaben zur Gewinnerzielung getätigt, aber infolge der Pflicht- verletzung keine Einnahmen erhalten, umfasst der entgange- ne Gewinn den gesamten Betrag der möglichen Einnahmen (Ausgaben und entgangener Gewinn des Gläubigers).

In beiden Fällen muss der Gläubiger die tatsächliche Möglichkeit und Wahrscheinlichkeit eines Gewinns nachweisen. Dazu können nicht nur Beweise konkreter Maßnahmen dienen, möglich sind auch alle anderen Beweise einer Möglichkeit der Gewinnerzielung. So genügen etwa Angaben über den Gewinn des Klägers für den Vergleichszeit raum vor der Verletzung und nach Beseitigung der Verletzung.

Die Berechnung möglicher Einnahmen kann geschätzt und voraussichtlich sein. Der Gläubiger wird aber nicht von der Pflicht entbunden, die Maßnahmen zur Erhaltung der Einnahmen zu beweisen und das Vorliegen und die Höhe der angemessenen Ausgaben zu begründen, die er zur Erzielung dieser Einnahmen getätigt hat oder getätigt hätte. Diese Ausgaben sind bei der Berechnung des entgangenen Gewinns zu berücksichtigen.

Der Schuldner kann seinerseits diese Berechnungen anfechten und beweisen, dass dem Gläubiger kein Gewinn entgangen ist oder dieser auch ohne die Verletzung der Verpflichtungen nicht bestünde (wenn der Gläubiger etwa keine Vorbereitungen getroffen hat oder der Kläger nicht über die zur Herstellung der angeblichen Produkte ausreichende Kapazitäten verfügt).

3. Kausalität

Unter Berücksichtigung der nicht eindeutigen Position russischer Gerichte zum Nachweis des Ursachenzusammenhangs definiert das Oberste Gericht eine Vermutung der Kausalität zwischen der Verlet- zung und den durch den Gläubiger nachgewiesenen Verlusten, wenn die vom Gläubiger geforderten Verluste eine übliche Folge der durch den Schuldner begangenen Pflichtverletzung sind. Der Schuldner kann diese Vermutung widerlegen und nachweisen, dass die Verlus- te des Gläubigers auf anderen Ursachen beruhen.

4. Haftungsbeschränkung

Das Oberste Gericht bestätigt, dass im Voraus abgeschlossene Ver- einbarungen zum Ausschluss oder zur Beschränkung der Haftung eine Haftung für die vorsätzliche Verletzung von Verpflichtungen nicht erfassen.

Haben die Vertragsparteien etwa den entgangenen Gewinn ausgeschlossen oder die Haftung auf einen bestimmten Betrag beschränkt, kann der Schuldner sich darauf nur berufen, wenn er das Fehlen von Vorsatz nachweist (Vermutung der vorsätzlichen Verletzung). Dazu kann er Beweise vorlegen, dass er bei Erfüllung der Verpflichtung  zumindest  den  minimalen Grad  an  Sorgfalt  und Umsicht eingehalten hat (die Verletzung also fahrlässig oder ohne Verschulden eingetreten ist).

Ähnliche  Vorschriften  gelten  auch  für  Haftungsausschlüsse  oder -beschränkungen bei unternehmerischer Tätigkeit, obwohl dort nach allgemeinen Regeln eine verschuldensunabhängige Haftung gilt.

Ein Haftungsausschluss ist nichtig, wenn er gegen ein gesetzliches Verbot verstößt oder dem Wesen der Verpflichtung widerspricht (so darf der gewerbsmäßige Beförderer seine Haftung nicht auf Fälle der vorsätzlichen Verletzung beschränken).

5. Konkrete und abstrakte Schäden

Das Oberste Gericht hat den Hauptunterschied zwischen konkre- ten und abstrakten Verlusten erläutert: Hat der Gläubiger nach der Vertragsverletzung ein Ersatzgeschäft abgeschlossen (etwa ver- gleichbare Waren gekauft), kann er vom Schuldner die konkreten Verluste (also den Unterschied zwischen dem ursprünglichen Ver-tragspreis und dem Preis des Ersatzgeschäfts) verlangen.

Ohne Ersatzgeschäft kann der Gläubiger den Ausgleich der abstrak- ten Verluste verlangen. Diese bilden die Differenz zwischen dem Preis des aufgelösten Vertrags und dem üblichen Preis (der bei Vertragsauflösung für vergleichbare Waren, Arbeiten und Dienst- leistungen am Ort der Vertragserfüllung gilt). Fehlt ein solcher Preis, gilt der Preis an einem anderen Ort zuzüglich der Transportkosten und sonstiger Aufwendungen.

Es gilt  die Vermutung  der Gutgläubigkeit  des Gläubigers  und der Vernünftigkeit seiner Handlungen bei Abschluss des  Ersatzge- schäfts. Der  Schuldner  kann  diese  Vermutung  widerlegen  (indem er zum Beispiel beweist, dass der Preis des Ersatzgeschäfts dem üblichen Preis offensichtlich nicht entspricht).

6. Unlautere Verhandlungsführung

Das Oberste Gericht weist darauf hin, dass allein der unbegründete Verzicht auf eine Fortsetzung von Verhandlungen noch keine Bös- willigkeit    bedeutet.    Wenn    aber    die     Umstände     nach Art. 434.1 Pkt. 2 ZGB vorliegen (Vorlage unvollständiger Informa- tionen; plötzlicher und unbegründeter Abbruch der Verhandlungen, wenn die andere Verhandlungspartei dies vernünftigerweise nicht erwarten musste), wird die Bösgläubigkeit des Beklagten vermutet. Diese Vermutung muss er widerlegen. Im Übrigen gilt die Vermutung der Gutgläubigkeit des Beklagten, die vom Kläger bestritten werden kann.

Die Parteien können eine Vereinbarung über die Verhandlungs- führung schließen. Es ist allerdings nicht zulässig, darin die Haftung für böswillige Handlungen während der Verhandlungen auszuschlie- ßen; eine solche Klausel ist nichtig.

7. Astreinte (gerichtliche Zinsen)

Wird ein Urteil auf Erfüllung in natura oder auf Unterlassung nicht erfüllt, verurteilt das Gericht auf Antrag des Klägers zur Zahlung eines Zwangsgelds, um den Schuldner zur Erfüllung anzuhalten (Astreinte oder gerichtliche Zinsen in der Auslegung des Obersten Gerichts). Das Oberste Gericht hebt hervor, dass ein Zwangsgeld bei Geldverpflichtungen sowie arbeits-, erb- und einigen familienrecht- lichen Streitigkeiten keine Anwendung findet.

Das Gericht ist nicht berechtigt, die Festsetzung eines Zwangs- geldes abzulehnen, wenn der Hauptklage stattgegeben wurde. Es handelt sich um eine zusätzliche Maßnahme; Verluste in natura aus der Nichterfüllung der Verpflichtung sind zusätzlich zu erstatten. Als Orientierungspunkt zur Festsetzung der Höhe des Zwangs- geldes verweist das Oberste Gericht darauf, dass die Erfüllung der gerichtlichen Entscheidung für den Schuldner günstiger sein soll als die Nichterfüllung und das Zwangsgeld.

8. Vertragsstrafe und Zinsen

Wird für die Verletzung von Zahlungsverpflichtungen eine anzu- rechnende Vertragsstrafe festgelegt, werden Zinsen für die Nut- zung fremder Geldmittel (Art. 395 ZGB) nicht erhoben, soweit nichts anderes durch Gesetz oder den Vertrag vorgesehen ist.

Die Einhaltung des Mahnverfahrens (rechtzeitige Versendung einer Mahnung vor Klageeinreichung) für die Hauptschuld bedeutet auch die Einhaltung des Mahnverfahrens für Vertragsstrafen, Zinsen nach Art. 317.1 ZGB oder andere ähnliche Haftungsmaßnahmen.

Ist die Vereinbarung über die Vertragsstrafe nicht schriftlich gefasst, hat das ihre Nichtigkeit zur Folge. Auch die Vertragsbedingung zum Ausschluss von Art. 333 ZGB (Möglichkeit des Gerichts zur Herab- setzung der Vertragsstrafe) ist nichtig, wenn sie nicht schriftlich gefasst wurde.

Das Oberste  Gericht hebt  hervor, dass  das Gericht  bei unter- nehmerischen Streitigkeiten die Vertragsstrafe nur auf begründeten Antrag des Schuldners und in Ausnahmefällen (damit der Gläubiger keinen unberechtigten Gewinn erhält) herabsetzen kann. In anderen Streitigkeiten kann das Gericht die Vertragsstrafe auch auf eigene Veranlassung herabsetzen, ist aber verpflichtet, mit den Parteien die Umstände zu erörtern, die für eine Unangemessenheit der Vertrags- strafe sprechen. Dem Beklagten obliegt die Beweislast, dass die Vertragsstrafe unangemessen und der Gewinn des Gläubigers nicht begründet ist. Gleichzeitig bleibt Pkt. 2 der Verordnung des Plenums des Obersten Arbitragegerichts Nr. 81 vom 22. Dezember 2011 in Kraft. Danach bildet bei der Prüfung der Angemessenheit der Ver- tragsstrafe der doppelte Diskontsatz der Bank Russlands einen grundsätzlichen Orientierungspunkt für das Gericht. Unter diesem Wert ist nach der allgemeinen Regel eine Herabsetzung der Ver- tragsstrafe nur in Ausnahmefällen zulässig. Dann erfolgt eine Her- absetzung nicht nach dem einfachen Diskontsatz.