Am 23. Juni 2016 hat sich das Vereinigte Königreich für einen Austritt aus der Europäischen Union (EU) entschieden. Nun ergibt sich eine Vielzahl offener Rechtsfragen auf verschiedensten Gebieten. Neben zahlreichen Fragen des nationalen britischen Rechtes sind die internationalen Rechtsbeziehungen des Vereinigten Königreiches berührt. Im Folgenden wird daher der Frage nachgegangen, inwieweit internationale Abkommen, die im Vereinigten Königreich aufgrund der bisherigen Mitgliedschaft in der EU gelten, dort auch noch nach einem „Brexit“ Geltung finden werden.
In den vergangenen Jahrzehnten trat die EU verstärkt als eigenständiger Akteur auf internationaler Ebene auf. Seitdem steigt die Zahl der völkerrechtlichen Verträge an, in der die EU selbst entweder neben den Mitgliedstaaten oder an ihrer Stelle Vertragspartei ist. Es stellt sich damit die Frage, welche Auswirkungen der Brexit auf das Verhältnis des Vereinigten Königreichs zu derartigen Verträgen haben wird. Hinsichtlich der Auswirkungen ist anhand der Vertragspartner der internationalen Verträge zu differenzieren, die auf der Vertragsschlusskompetenz im internen unionsrechtlichen Gefüge beruht.
Vom Vereinigten Königreich geschlossene „Altverträge“
Die Vertragsschlusskompetenz aus der völkerrechtlichen Souveränität des Nationalstaates liegt nach wie vor grundsätzlich beim Vereinigten Königreich selbst, wie es schon vor dem Beitritt des Landes zur Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft im Jahre 1973 der Fall war. Auf solche Verträge, die das Vereinigte Königreich eigenständig vor oder während seiner Mitgliedschaft in der EU (und deren Vorgängerorganisationen) geschlossen hat, kann ein Brexit keine Wirkung entfalten: Immerhin gibt es hier keine unmittelbaren rechtlichen Berührungspunkte mit dem internen Unionsrecht. Es handelt sich vielmehr um Abkommen, die völkerrechtlich außerhalb des Unionsrechts stehen. Art. 351 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) sieht in dieser Hinsicht sogar explizit vor, dass Altverträge der Mitgliedstaaten mit Drittstaaten, die sie in der Zeit vor ihrer Mitgliedschaft in der EU geschlossen haben, fortgelten, selbst wenn sie nicht gänzlich im Einklang mit dem Unionsrecht sind.
Verträge mit „funktioneller Rechtsnachfolge“ der EU
Im Grunde gleichgelagert sind die Fälle ursprünglich von den Mitgliedstaaten national abgeschlossener Verträge, bei denen die EU aufgrund zugewiesener ausschließlicher Kompetenzen später die „funktionelle Rechtsnachfolge“ der Mitgliedstaaten angetreten hat. Dies war etwa beim GATT 1947 der Fall (zum Begriff vgl. EuGH, Urteil vom 12. Dezember 1972, 21 24/72, Slg. 1972, 1219 Rn. 14/18, „International Fruit“). Die EU ist hier jeweils nur nachträglich neben ihre Mitgliedstaaten getreten und übernimmt gegebenenfalls deren Position unter Duldung oder Anerkennung durch die anderen Parteien. Die völkerrechtliche Position der Mitgliedstaaten als Vertragsstaaten bleibt davon aber unberührt. Nach einem Austritt könnte das Vereinigte Königreich seine Parteistellung also schlicht wieder selbst wahrnehmen.
Von der EU geschlossene völkerrechtliche Verträge
Etwas anderes gilt für jene völkerrechtlichen Verträge, die von der EU (und ihren Vorgängerorganisationen) im Rahmen ihrer eigenen Zuständigkeit selbst abgeschlossen wurden. In den Fällen der ausschließlichen Zuständigkeit – beispielsweise für die Zollunion, die Wettbewerbsregeln, die Fischereipolitik und die gemeinsame Handelspolitik (vgl. Art. 3 AEUV) und der „geteilten“ Zuständigkeit – beispielsweise für den Verbraucherschutz, die Sozialpolitik, die Landwirtschaftspolitik, Energie, Umwelt und Verkehr (vgl. Art. 4 AEUV) – haben die Mitgliedstaaten ihre Rechtssetzungskompetenz nämlich ganz oder teilweise an die EU als eigenständiges Völkerrechtssubjekt übertragen. Das beinhaltet im Bereich der ausschließlichen Zuständigkeit der EU nach Art. 3 Abs. 2 AEUV ausdrücklich die Kompetenz völkerrechtlicher Vertragsschlüsse. Die Kompetenz zum Abschluss völkerrechtlicher Verträge ist also ebenfalls, nach Maßgabe der Art. 21 ff. des Vertrages über die Europäische Union (EUV), 207, 218 ff. AEUV an die EU übertragen worden.
Von besonderer wirtschaftlicher Bedeutung im Bereich der ausschließlichen Unionskompetenz sind die Bereiche der Zollunion, Art. 3 Abs. 1 lit. a AEUV, und der gemeinsamen Handelspolitik, Art. 3 Abs. 1 lit. e AEUV. Aufgrund dieser Kompetenzen haben die EU und ihre Vorgängerorganisationen bereits eine Vielzahl völkerrechtlicher Verträge geschlossen, deren Fortgeltung für das Vereinigte Königreich nun in Frage steht. Zu diesen Verträgen zählen unter anderem die Freihandels- und/oder Kooperationsabkommen zwischen der EU auf der einen und jeweils der Schweiz, den ASEAN-Staaten, dem Golf-Kooperationsrat, Andorra, den Färöer Inseln und der palästinensischen Autonomiebehörde auf der anderen Seite. Außerdem ist die EU, nicht aber das Vereinigte Königreich selbst, Vertragspartei des Government Procurement Agreement (GPA).
Die auf diese Weise geschlossenen Abkommen werden ohne weiteren Transformationsakt unmittelbar „integrierender Bestandteil“ des Unionsrechtes (so u.a. EuGH, Urteil vom 30. April 1974,181/73, Slg. 1974, 449, LS 1, „Haegeman“; Urteil vom 26. Oktober 1982, 104/81, Slg. 1982, 3641, Rn. 13, „Kupferberg“). Nach der völkergewohnheitsrechtlichen „pacta-tertiis“-Regel, vgl. Art. 34 des Wiener Übereinkommens über das Recht der Verträge (WVK), sind die Mitgliedstaaten dadurch zwar nicht völkerrechtlich unmittelbar an die von der EU geschlossenen Verträge gebunden; die Bindung trifft unmittelbar nur die EU selbst. Eine Rechtsbindung der Mitgliedstaaten wird aber mittelbar durch Art. 216 Abs. 2 AEUV auf unionsrechtlicher Basis geschaffen. Eben diese interne Rechtsbindung des Vereinigten Königreiches – und damit auch eine entsprechende Berechtigung gegenüber den anderen Vertragsparteien – entfiele im Falle des „Brexit“.
Nach Art. 50 Abs. 3 EUV findet nämlich das europäische Primärrecht und damit indirekt auch die von der EU selbst mit Drittstaaten geschlossenen Verträge keine Anwendung mehr auf ehemalige Mitgliedstaaten ab ihrem Austritt. Sie hören auf, den ausgetretenen Mitgliedstaat zu binden. Der Austritt eines Mitgliedstaates hat also zur Folge, dass sich „der Anwendungsbereich der von der EU mit Dritten abgeschlossenen völkerrechtlichen Übereinkünfte“ um das Staatsgebiet des Austrittsstaates reduziert (Dörr in Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union, Bd. 1, EL 45, Art. 50 EUV Rn. 39). Das Vereinigte Königreich wäre automatisch nicht mehr Teil der von der EU geschlossenen Verträge.
Sollte das Vereinigte Königreich eine Parteistellung im Hinblick auf diese Verträge anstreben, müsste es sie neu abschließen oder eine Regelung mit den anderen Vertragsparteien finden, die eine Kontinuität seiner Teilhabe an den Verträgen gewährleistet. In beiden Fällen wäre aber nach den allgemeinen Grundsätzen des Völkervertragsrechtes nicht nur eine Einigung mit und Zustimmung durch die EU, sondern ebenfalls mit allen anderen Parteien der jeweiligen Verträge erforderlich.
Gemischte Abkommen
Neben den von der EU eigenständig geschlossenen völkerrechtlichen Verträgen wurden zahlreiche Abkommen unter Beteiligung von EU und Mitgliedstaaten als sogenannte gemischte Abkommen geschlossen. Vertragsparteien im Verhältnis zu den Drittstaaten sind hier die EU und ihre Mitgliedstaaten gemeinsam. Hintergrund dieser Konzeption ist eine zwischen EU und Mitgliedstaaten geteilte Vertragsschlusskompetenz, weil der Vertragsgegenstand teilweise in den Kompetenzbereich der EU und teilweise in jenen der Mitgliedstaaten fällt. Solche Abkommen binden sowohl die EU als auch ihre Mitgliedstaaten an ihren gesamten Inhalt (ganz h. M., vgl. nur Schmalenbach, in: Calliess/Ruffert, EGV Rn. 30 f.).
Das Feld der gemischten Abkommen ist um einiges größer und bedeutender als jenes der reinen EU-Abkommen. Dazu zählen nicht nur alle multilateralen Abkommen im Rahmen der WTO, sondern zudem das Abkommen über den Europäischen Wirtschaftsraum (EWR), der Cotonou-Vertrag mit den AKP-Staaten und die daraus folgenden Wirtschaftspartnerschaftsabkommen, die euro-mediterrane Partnerschaft, die (Stabilisierungs- und) Assoziierungsabkommen mit zahlreichen Staaten sowie Freihandels- und/oder Kooperationsabkommen mit Russland, der Ukraine, Südkorea, Mexiko und weiteren. Das europäisch-kanadische Handelsabkommen CETAund das noch in der Verhandlung befindliche Abkommen zur Bildung einer Transatlantischen Handels- und Investitionspartnerschaft mit den USA (TTIP) fallen möglicherweise ebenfalls in diese Kategorie, wobei dies derzeit noch umstritten ist.
Das Vereinigte Königreich verfügt über eine eigene völkerrechtliche Stellung innerhalb solcher gemischter Verträge und bliebe damit über einen Austritt hinaus Teil der Verträge. Nach dem „Brexit“ könnte sich eine einfache Fortgeltung gemischter Verträge dennoch als problematisch erweisen: Schließlich ist das Vereinigte Königreich nicht nur als EU-Mitgliedstaat, sondern sogar im Hinblick auf diese Mitgliedschaft und zusammen mit der EU Vertragspartei geworden. Eine Änderung des Status‘ des Vereinigten Königreiches durch dessen Austritt könnte bei den übrigen Vertragsparteien dazu führen, eine Fortgeltung zu bestreiten (clausula rebus sic stantibus nach Art. 62 WVK). Danach können grundlegende Änderungen der Umstände, die von den Parteien bei Vertragsschluss als wesentliche Grundlage, für ihre Zustimmung gebunden zu sein, vorausgesetzt wurden, einen Grund zur Beendigung oder zum Rücktritt vom Vertrag bilden. Die Änderung der Umstände muss allerdings zusätzlich das Ausmaß der auf Grund des Vertrages noch zu erfüllenden Verpflichtungen tiefgreifend umgestalten. Der Tatbestand des Art. 62 WVK ist bewusst negativ formuliert und eng gefasst, um ein allzu leichtes Abweichen von einmal geschlossenen Verträgen zu vermeiden. Eine Anwendung dürfte entsprechend bei vielen gemischten Verträgen unwahrscheinlich sein. Selbst bei solchen Verträgen, die gerade im Hinblick auf die EU als Staatengemeinschaft (EWR, Cotonou-Vertrag, euro-mediterrane Partnerschaft) geschlossen wurden ist es durchaus denkbar, dass eine Fortgeltung mit dem Vereinigten Königreich von allen Beteiligten gewünscht wird. Eine Debatte über das Vorliegen der Voraussetzungen von Art. 62WVK könnte bei CETA verhindert werden, indem vor der Ratifikation in den Schlussbestimmungen ein entsprechender Passus aufgenommen wird, der die eigene völkerrechtliche Stellung Großbritanniens über den Austritt hinaus sichert. Während die CETA-Verhandlungen abgeschlossen sind, laufen die TTIP-Gespräche noch. Die US-Regierung prüft derzeit laut Aussagen des US-Handelsbeauftragten, welche Auswirkungen der Brexit auf TTIP haben wird. Da der „Brexit“ ohne Präzedenz ist, bleibt abzuwarten, wie die tatsächliche völkerrechtliche Übung aussehen wird. Eine wesentliche Rolle wird dabei gewiss das Verhalten der EU und seiner verbleibenden Mitgliedstaaten gegenüber einem „abtrünnigen“ Vereinigten Königreich spielen, aber auch der Wille des Vereinigten Königreich, überhaupt Teil dieser Abkommen zu bleiben – gerade beim EWR hat sich die Debatte der Befürworter des Austrittes über ein für und wider lebhaft entwickelt.
Unwahrscheinlich ist jedenfalls, dass sich an der Position des Vereinigten Königreiches im Gefüge der WTO etwas verändern wird. Das WTO-Statut, GATT 1994, GATS, TRIPS und DSU blicken mittlerweile auf 150 Teilnehmer und bilden de facto ein universelles Welthandelsregime. In diesem Zusammenhang wird es kaum darauf ankommen, ob das Vereinigte Königreich in Zukunft noch ein Mitgliedstaat der EU sein wird oder nicht.
Fazit
Zusammenfassend lässt sich also feststellen, dass die Auswirkungen eines „Brexit“ auf die völkerrechtlichen Verträge des Vereinigten Königreiches sehr unterschiedlich ausfallen. Während Verträge, die das Vereinigte Königreich eigenständig geschlossen hat, ohne weiteres fortgelten, wird das Vereinigte Königreich nicht ohne weiteres Partei derjenigen Verträge bleiben können, die lediglich von der EU abgeschlossen wurden.
Einen Zwischenfall bilden die sogenannten gemischten Verträge. Sie gelten grundsätzlich im Verhältnis zum Vereinigten Königreich fort, könnten aber unter Umständen von den übrigen Vertragsparteien aufgrund der veränderten Umstände hinsichtlich der entfallenden Mitgliedschaft in der EU in Frage gestellt werden. Zur Vermeidung von Komplikationen auf völkerrechtlicher Ebene wird es darum für das Vereinigte Königreich nötig werden, vor dem Vollzug des „Brexit“ die Modalitäten mit den Parteien der betreffenden Verträge abzustimmen. In dem zu schließenden Austrittsabkommen zwischen dem Vereinigten Königreich und der EU können indes nur die Modalitäten zwischen diesen beiden Parteien geklärt werden, eine Klärung mit den Drittstaaten der betroffenen Verträge bliebe darüber hinaus erforderlich.