Das OLG München ist mit Urteil vom 17.07.2018 – 29 U 3493/17 (abgedruckt in GRUR-RR 2019, 104 – EU-Klausel) von der bisherigen Rechtsprechung des BGH, wann bei selektiven Vertriebssystemen aus Gründen des freien Warenverkehrs eine Beweislastumkehr für die markenrechtliche Erschöpfung erforderlich ist, abgewichen.
Abschottungsgefahr und damit Notwendigkeit für eine Beweislastumkehr liegt nach der Ansicht des OLG München bei Selektiven Vertriebssystemen nur dann vor, wenn den zugelassenen Vertragshändlern auch die Belieferung von Vertragshändlern in anderen EUMitgliedstaaten untersagt ist.
Zum Hintergrund; markenrechtliche Erschöpfung
Ein Markeninhaber kann Dritten den Vertrieb der Markenware nur untersagen, wenn die konkrete Ware nicht erstmals durch den Markeninhaber oder mit seiner Zustimmung im Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) auf den Markt gebracht wurde (§ 24 MarkenG, Art. 15 UMV).
Grundsätzlich trägt der wegen Markenverletzung in Anspruch genommene Anspruchsgegner für die markenrechtliche Erschöpfung der von ihm vertriebenen Markenware die volle Beweislast, weil es sich um eine Einwendung gegen die Ansprüche des Markeninhabers handelt (BGH GRUR 2004, 156, 158 – stüssy II).
Modifizierung der Beweisregel
Die Erfordernisse des in Art. 34 ff. AEUV verankerten Schutzes des freien Warenverkehrs innerhalb der EU können jedoch eine Modifizierung dieser Beweisregel gebieten. So obliegt dem Markeninhaber insbesondere dann, wenn er seine Waren in der EU über ein ausschließliches Vertriebssystem in den Verkehr bringt, der Nachweis, dass die Waren ursprünglich von ihm selbst oder mit seiner Zustimmung außerhalb des EWR in Verkehr gebracht wurden, falls dem Anspruchsgegner der Nachweis gelingt, dass ansonsten die Gefahr der Abschottung der nationalen Märkte besteht. Gelingt dem Markeninhaber dieser Nachweis, obliegt es wiederum dem Anspruchsgegner, nachzuweisen, dass der Markeninhaber dem weiteren Vertrieb der Waren im Europäischen Wirtschaftsraum zugestimmt hat (EuGH GRUR 2003, 512 – Van Doren + Q. et al.).
In der Folge der Entscheidung des EuGH hat der BGH diese Beweislastmodifikation in mehreren Entscheidungen weiter konkretisiert:
So obliegt dem Markeninhaber die Beweislast für das Nichtvorliegen der Erschöpfung regelmäßig dann (ohne dass es weiteren Nachweises der Gefahr der Abschottung der nationalen Märke bedarf), wenn er ein ausschließliches Vertriebssystem betreibt (BGH GRUR 2004, 156 ff. – stüssy II). Diese Beweislastmodifikation ist nachvollziehbar. Bei ausschließlichen Vertriebssystemen besteht nur ein Vertriebshändler pro Mitgliedsstaat, dem regelmäßig der Vertrieb nur in dem jeweiligen Mitgliedsstaat erlaubt ist. Der Anspruchsgegner müsste zum Nachweis der Erschöpfung seine Quelle benennen, welche der Markeninhaber Quelle sofort schließen würde. Dadurch könnten Preisunterschiede in den jeweiligen Mitgliedsstaaten aufrechterhalten werden.
Die Gefahr der Abschottung der nationalen Märkte (und damit eine Beweislastumkehr für die Erschöpfung) soll nach dem BGH allerdings regelmäßig auch dann bestehen, wenn der Markeninhaber seine Produkte über ein selektives Vertriebssystem absetzt (BGH GRUR 2012, 626 – Converse I). Zwar stellt der BGH hierfür die weitere Anforderung auf, dass es den Vertragshändlern ferner untersagt sein muss, ihre Produkte an Zwischenhändler außerhalb des Vertriebssystems zu verkaufen (BGH GRUR 2012, 630 – Converse II). Dieses vertragliche Verbot ist indes regelmäßig Regelungsbestandteil von selektiven Vertriebsverträgen.
Daher lag bislang de facto bei selektiven Vertriebssystemen nahezu immer eine Umkehrung der Beweislast für die (Nicht-)Erschöpfung der durch den Anspruchsgegner vertriebenen Markenware vor.
Die Entscheidung des OLG München
Das OLG München ist dieser – nach der Erfahrung des Autors von bislang ansonsten von allen Land- und Oberlandesgerichten angewendeten – Rechtsprechung des BGH nicht gefolgt. Das OLG München argumentiert, dass die bisherige Definition, wann Abschottungsgefahr der Einzelmärkte in der EU vorliege, für selektive Vertriebssysteme zu präzisieren ist.
Eine Voraussetzung für die kartellrechtliche Zulässigkeit von selektiven Vertriebssystemen ist, dass die Vertriebshändler eu-weit an alle anderen Vertriebshändler und Endverbraucher liefern dürfen. Insofern könne nach dem OLG München eine Abschottungsgefahr nur dann vorliegen, wenn den Vertragshändlern auch die Belieferung von Vertragshändlern oder Endverbrauchern in anderen EU-Mitgliedstaaten untersagt sei. Bloße tatsächliche Preisunterschiede in den Mitgliedsstaaten – etwa aufgrund unterschiedlicher Produktwertschätzung, Nachfrageverhaltens, Kaufkraft oder Besteuerung – indizierten dabei keine Marktabschottung.
Die "Präzisierung" durch das OLG München bedeutet dabei nichts anderes als eine Abkehr von der Rechtsprechung des BGH. Dieser Abkehr ist vollumfänglich zuzustimmen. Zwar mag es ungerecht erscheinen, einen Außenseiter über die Beweislast der Erschöpfung zur Benennung seiner Quelle im selektiven Vertriebssystem zu zwingen. Genauso wie im Rahmen von ausschließlichen Vertriebssystemen führt dies zu einer Versiegelung der Quelle, da Vertragshändlern regelmäßig der Verkauf an Außenseitern nicht gestattet ist. Dies ist jedoch keine Frage der Warenfreizügigkeit zwischen den Mitgliedsstaaten der Europäischen Union. Es wird (zulässigerweise) ein System abgeschottet, nicht (unzulässigerweise) Mitgliedsstaaten der EU untereinander zur Aufrechterhaltung von Preisunterschieden.
Es bleibt abzuwarten, ob diese Entscheidung des OLG München Bestand haben wird. Das OLG hat die Revision indes nicht zugelassen.