Das OLG Düsseldorf hat in zwei aktuellen Entscheidungen die Haftungsvoraussetzungen für eine Verletzung von Second-Medical-Use-Patenten neu bestimmt. Neben den Fällen des “sinnfälligen Herrichtens” eines Medikaments für die geschützte Verwendung soll nunmehr eine unmittelbare Verletzung auch “in sonstiger Weise” in Betracht kommen, wenn das Medikament für die patentgemäße Verwendung objektiv geeignet ist und sich der Vertreiber äußere Umstände zunutze macht, die dafür sorgen, dass es mit dem angebotenen Medikament zu einem patentgeschützten Therapieeinsatz kommt. Damit hat die aktuelle Rechtsprechung die Haftungsrisiken für die Verletzung von Second-Medical-Use-Patenten verschärft.
HINTERGRUND: SECOND-MEDICALUSE- PATENTE
Second-Medical-Use-Patente beanspruchen die Verwendung eines vorbekannten Wirkstoffs oder Wirkstoffgemischs für eine neue therapeutische Anwendung. Second-Medical-Use-Ansprüche wurden nach der früheren Rechtspraxis des Europäischen Patentamtes (EPA) als Herstellungsverwendungsansprüche erteilt ("Swiss-type-claims"), die auf die "Verwendung eines Wirkstoffs X zur Herstellung eines Medikaments zur Behandlung einer Krankheit Y" gerichtet sind. Seit Inkrafttreten des Art. 54 V EPÜ in der seit dem 13. Dezember 2007 geltenden Fassung, der inhaltlich § 3 IV PatG entspricht, können Second- Medical-Use-Ansprüche nunmehr auch als Verwendungsansprüche auf einen "Wirkstoff X zur Behandlung einer Krankheit Y" gerichtet sein, wenn die therapeutische Anwendung neu und erfinderisch ist (vgl. z.B. BGH GRUR 2014, 461 - Kollagenese I). Wie der BGH in verschiedenen Entscheidungen (zuletzt GRUR 2016, 921 - Pemetrexed) klargestellt hat, gewähren (pharmazeutische) Verwendungs- und Herstellungsverwendungspatente "zweckgebundenen Stoffschutz". In beiden Fällen bezieht sich der Anspruch auf die Eignung eines bekannten Wirkstoffs für einen bestimmten Therapiezweck und damit letztlich auf eine dem Wirkstoff innewohnende Eigenschaft. Danach sind auch Swiss-type-claims im Verletzungsprozess wie "gewöhnliche" zweckgebundene Stoffansprüche zu behandeln (vgl. OLG Düsseldorf, GRUR 2017, 1107 - Östrogenblocker).
BISHERIGE RECHTSPRAXIS: UNMITTELBARE PATENTVERLETZUNG ERFORDERT SINNFÄLLIGES HERRICHTEN
Nach gefestigter Rechtsprechung beginnt der Schutz eines Second-Medical-Use-Patents nicht erst mit der unmittelbaren therapeutischen Verwendung (z.B. ärztliche Verordnung oder Anwendung) des Medikaments für den geschützten Therapiezweck, sondern bereits im gewerblichen Vorfeld bei Herstellung, Angebot und Vertrieb des Wirkstoffs für diesen Zweck (vgl. BGH, GRUR 2001, 730 - Trigonellin). Voraussetzung ist insoweit, dass der objektiv geeignete Wirkstoff für den geschützten Therapiezweck "sinnfällig hergerichtet" wurde. Dies ist dann der Fall, wenn zwischen der Maßnahme des sinnfälligen Herrichtens einerseits und der Herstellung und dem Vertrieb des Wirkstoffs (bzw. Medikaments) andererseits ein unmittelbarer und zielgerichteter Zusammenhang besteht, der den Verwender eindeutig zum patentgeschützten Gebrauch anhält. Eine solche sinnfällige Herrichtung kann etwa in der spezifisch auf den geschützten Verwendungszweck gerichteten Formulierung, Konfektionierung, Dosierung, gebrauchsfertigen Verpackung und/oder Fach- und Gebrauchsinformation (Packungsbeilage) eines Medikaments liegen (BGH, GRUR 1987, 794 – Antivirusmittel; BGH, GRUR 2001, 730 – Trigonellin).
Die Anforderungen der bisherigen Rechtspraxis an die sinnfällige Herrichtung bei Second-Medical-Use-Ansprüchen waren jedoch vergleichsweise hoch. Sie wurde letztlich nur dann angenommen, wenn in der Gebrauchs- oder Fachinformation ausdrücklich auf die patentgeschützte Verwendung hingewiesen wurde. Daran änderte auch die Tatsache nichts, dass die Verwendung des angegriffenen Medikaments auch für die geschützten Therapiezwecke tatsächlich nicht ganz ausgeschlossen war (vgl. LG Düsseldorf, GRUR-RR 2004, 193 - Ribavirin). Außerdem war ein sinnfälliges Herrichten selbst dann nicht anzunehmen, wenn an anderer Stelle, losgelöst vom konkreten Medikament, in allgemeinen Werbeunterlagen oder durch Vertriebspersonal des Präparatvertreibers ausdrücklich auf die Verwendung des Medikaments in der geschützten Indikation hingewiesen wurde, da ungewiss sei, ob der Empfänger des Medikaments von der Werbung überhaupt Kenntnis nimmt und es sodann tatsächlich zur geschützten Verwendung kommt (vgl. OLG Düsseldorf, Urt. v. 31.1.2013 - I-2 U 54/11, BeckRS 2013, 11782 - Cistus Incanus). Aufgrund dieser recht engen Grenzen einer sinnfälligen Herrichtung konnte eine Patentverletzung regelmäßig einfach durch ein regulatorisches "Carve-Out" in der Fachinformation nach § 11a (1e) AMG bzw. Art. 11 II RL 2001/83/EG ("Skinny-Label") umgangen werden.
Niedrigere Anforderungen stellte das LG Hamburg für den Fall des Cross-Label-Use (GRUR-RR 2015, 330 - Rabattvertrag). In der Pregabalin-Entscheidung kam das Gericht zum Ergebnis, dass bei einem uneingeschränkten Beitritt von Generikaherstellern zu einem Rabattvertrag mit gesetzlichen Krankenkassen nach § 130a VIII SGB V, der auch die patentgeschützte Indikation des Wirkstoffs umfasst, aufgrund regulatorischer Substitutionsmechanismen nach § 129 I S. 1 Nr. 1, S. 2 und 3, II SGB V feststehe, dass rabattbegünstigte Generika in erheblichem Umfang auch für die patentgeschützte Indikation abgegeben werden. Das LG Hamburg ging davon aus, dass ein Medikament bereits dann sinnfällig für die geschützte Anwendung hergerichtet ist, wenn es ohne Weiteres zur Behandlung in der geschützten Indikation verwendet werden kann. Anders als die bisherige "Düsseldorfer" Rechtsprechungspraxis, bedarf es daher für die sinnfällige Herrichtung aus Sicht des LG Hamburg keiner weiteren körperlichen Schritte oder Hinzufügung körperlicher Mittel, sondern lediglich einer Zweck- oder Verwendungsbestimmung. Diese treffe vorwiegend der nach § 129 I S. 1 Nr. 1, S. 2 und 3, II SGB V substituierende Apotheker, dessen Handlungen sich der Generikahersteller zurechnen lassen müsse, weil die Substitution aufgrund der sozialrechtlichen Mechanismen nicht nur sicher vorhersehbar sei, sondern auch gesetzlich vorgesehen sei.
OLG DÜSSELDORF: UNMITTELBARE VERLETZUNG AUCH OHNE SINNFÄLLIGES HERRICHTEN
Nunmehr hält auch das OLG Düsseldorf eine Patentverletzung insbesondere bei Cross-Label-Use unter weniger strengen Voraussetzungen als zuvor für möglich (GRUR 2017, 1107 - Östrogenblocker und Urt. v. 1.3.2018 – 2 U 30/17, BeckRS 2018, 2410). Ausgehend von der Auffassung des BGH, wonach im Zentrum des durch ein Herstellungsverwendungspatent vermittelten Schutzes die objektive Eignung des betreffenden Medikaments für die patentgemäße Verwendung steht, geht das OLG Düsseldorf davon aus, dass eine unmittelbare Verletzung von Second-Medical-Use-Ansprüchen auch dann in Betracht kommen kann, wenn das Medikament zwar nicht nach herkömmlichen Maßstäben durch den Vertreiber selbst für die spezifische Verwendung "aktiv" sinnfällig hergerichtet wurde, die geschützte Zweckbindung aber "in sonstiger Weise" sichergestellt ist.
Das OLG Düsseldorf hat die Voraussetzungen für eine unmittelbare Verletzung eines Second-Medical-Use-Anspruchs wie folgt definiert:
a) Tauglichkeit des Medikaments für den patentgemäßen Zweck; und b) Zunutze machen von Umständen durch den Präparatvertreiber, die - in ähnlicher Weise wie eine aktive sinnfällige Herrichtung durch ihn - dafür sorgen, dass es mit dem angebotenen oder vertriebenen Medikament zum geschützten Therapieeinsatz kommt.
Letzteres verlangt - so das OLG - einen hinreichenden, nicht bloß vereinzelten Verwendungsumfang nach Maßgabe des Patents sowie ein dahingehendes Wissen oder zumindest treuwidriges Nichtwissen. Nach Ansicht des OLG Düsseldorf können die besagten Anforderungen vor allem beim Cross-Label-Use gegeben sein. In einem solchen Fall sei es daher gerechtfertigt und angemessen, den Präparatvertreiber in die patentrechtliche Pflicht zu nehmen, wenn ihm die für ihn günstige Verordnungs- und Substitutionspraxis bekannt ist oder jedenfalls hätte bekannt sein müssen und er diese Praxis durch Belieferung von Großhändlern dennoch für sich ausnutzt.
FAZIT
Die aktuelle Rechtsprechung des OLG Düsseldorf hat die Haftungsrisiken bei Second-Medical-Use-Patenten verschärft, da eine unmittelbare Patentverletzung nunmehr auch in Betracht kommt, wenn es aufgrund der äußeren Umstände absehbar ist, dass es zu einer patentgemäßen Nutzung des Medikaments kommen wird.
Hauptanwendungsfall dürfte der vom OLG Düsseldorf benannte Cross-Label-Use sein, bei dem ein Carve-Out zukünftig nicht mehr ausreichen dürfte, um eine Haftung zu umgehen. Daneben können auch solche Sachverhalte erfasst sein, in denen Leitlinien ärztlicher Fachgesellschaften oder Richtlinien (z.B. des Gemeinsamen Bundesausschusses oder der Ärztekammer) bestimmte in der Fachinformation nicht genannte Diagnose- und Therapiemaßnahmen empfehlen, bei deren Umsetzung das Patent verwirklicht wird. Auch hier ist nämlich damit zu rechnen, dass Ärzte generell die entsprechenden wissenschaftlich begründeten und praxisorientierten Vorgaben - trotz des bestehenden Patentschutzes - beachten werden, jedenfalls soweit diese medizinische Standards widerspiegeln.
Soweit Fälle des Cross-Label-Use betroffen sind, kommt eine mögliche Haftung nunmehr nicht nur - wie in der Pregabalin-Entscheidung des LG Hamburg - im Zusammenhang mit unbeschränkten Rabattverträgen in Betracht, sondern auch dann, wenn es auch ohne Rabattverträge und trotz eines Carve-Outs aufgrund einer "Standardsubstitution" nach § 129 I S. 1 Nr. 1, S. 2, II SGB V zum Cross-Label-Use kommen kann. Danach können Substitution und Abgabe eines Generikums für den geschützten Therapiezweck auch ohne Vorliegen eines Rabattvertrages bereits dann erfolgen, wenn das Generikum (unter den weiteren Voraussetzungen dieser Regelung) insbesondere zu den drei preisgünstigsten wirkstoffgleichen Präparaten zählt. Allerdings kann hier das Ausnutzen äußerer Umstände durch den Vertreiber zur Begehung einer Patentverletzung weniger evident sein als im Fall eines unbeschränkten Rabattvertrages, da auch Preise von Wettbewerbspräparaten zu berücksichtigen sein werden und keine Lieferverpflichtungen gegenüber gesetzlichen Krankenkassen für den geschützten Therapiezweck existieren. Es kann dann erforderlich sein, den Umfang der tatsächlichen Nutzung des Medikaments im geschützten Bereich nachzuweisen, was - wie die aktuelle Rechtsprechung des OLG Düsseldorf (Urt. v. 1.3.2018 – 2 U 30/17, BeckRS 2018, 2410) zeigt - im Einzelfall schwierig sein kann, z.B. wenn die Fachinformation zu einer bestimmten ärztlichen Handhabung des Präparats schweigt.
Das OLG Düsseldorf lässt offen, welche Maßnahmen von einem Präparatvertreiber neben einem Carve-Out zu erwarten sind, um eine Haftung zu vermeiden. In Betracht kommt vor allem ein „Substitutions- und Patenthinweis“ in Arzneimitteldatenbanken und Software für Arztpraxen und Apotheken. Inwieweit eine solche Kommunikation allein die gewünschte Wirkung erzielen kann, ist aber fraglich. Insbesondere aufgrund der bestehenden Regress- und Retaxierungregeln, wonach Ärzte und Apotheker für unwirtschaftliches Verordnungs- bzw. Substitutionsverhalten sanktioniert werden können, werden diese im Zweifel trotzdem am patentverletzenden Substituierungsmechanismus festhalten. Daher können zur Vermeidung der Sanktionierung von Ärzten und Apothekern, die sich patentrechtskonform verhalten, zusätzliche Hinweise des Präparatvertreibers gegenüber gesetzlichen Krankenkassen sowie Ärzte- und Apothekerverbänden angezeigt sein.
Problematisch erscheint hingegen die häufig diskutierte Anbringung eines "patentrechtlichen Warnhinweises" auf der Verpackung und/oder der Fach- und Gebrauchsinformation des betreffenden Medikaments. Nach europäischem Zulassungsrecht, das mit den nationalen Regelungen weitestgehend identisch ist, sind Angaben in der Etikettierung, Fach-oder Gebrauchsinformation, die über die Pflichtangaben nach Art. 11, 54 und 59 RL 2001/83/EG hinausgehen, nur eingeschränkt zulässig. Diese Pflichtangaben sehen u. a. Informationen zu klinisch-pharmakologischen Eigenschaften und zur sicheren und wirksamen Anwendung eines Medikaments vor, nicht hingegen rechtliche Hinweise. Informationen auf der äußeren Verpackung oder in der Gebrauchsinformation, die als "weitere Angaben" über den Gegenstand der Pflichtangaben hinaus gehen, müssen außerdem nach Art. 62 RL 2001/83/EG für die gesundheitliche Aufklärung von Patienten wichtig sein und dürfen den Angaben in der Fachinformation nicht widersprechen. Patentrechtliche Warnhinweise dürften hingegen diese Voraussetzungen nicht erfüllen, da sie jedenfalls nicht für die gesundheitliche Aufklärung von Patienten wichtig sind. Unerheblich dürfte insoweit sein, wie ein solcher patentrechtlicher Warnhinweis auf der Verpackung angebracht wird (vgl. zur verbotenen Werbung auf Medikamentenverpackungen BGH GRUR 2013, 857 – Voltaren).