In einem kürzlich veröffentlichten Urteil hat der Bundesgerichtshof entschieden, dass die staatlichen Gerichte Schiedssprüche über kartellrechtliche Vorschriften im Verfahren über die Vollstreckbarerklärung oder die Aufhebung rechtlich und tatsächlich vollumfänglich überprüfen dürfen. Das sonst geltende Verbot einer sachlichen Überprüfung des Schiedsspruchs durch die staatlichen Gerichte (révision au fond) greift dann nicht. Ein möglicherweise sehr aufwändiges Schiedsverfahren, das kartellrechtliche Fragen zum Gegenstand hatte, kann so zu einer bloßen Durchgangsstation auf dem Weg zu den ordentlichen Gerichten werden.
Sachverhalt
Der Bundesgerichtshof traf seine Entscheidung in einem Verfahren über die Aufhebung eines Schiedsspruchs nach § 1059 Abs. 2 Nr. 2 b ZPO. Die Antragstellerin beantragte vor dem Oberlandesgericht Frankfurt am Main, einen zu ihren Ungunsten ergangenen Schiedsspruch aufzuheben. Die Antragsgegnerin ist Eigentümerin des Büdinger Waldes, in dem sich die Steinbrüche Breitenborn und Büdingen-Rinderbügen befinden. Der erstgenannte Steinbruch ist an eine Wettbewerberin der Antragstellerin verpachtet, Pächterin des zweiten Streinbruchs war die Antragstellerin.
Die Antragsgegnerin kündigte 2017 den Pachtvertrag vor Ende der Laufzeit. Nach den Feststellungen des Bundesgerichtshofs verfolgte sie mit der Kündigung das Ziel, die Antragstellerin zur Veräußerung ihrer Anlagen im Steinbruch an ihre Konkurrentin zu bewegen, die dann beide Steinbrüche betreiben sollte. Durch das Ausscheiden der Pächterin aus dem Wettbewerb sollte ein Preiskampf zwischen den Steinbrüchen verhindert und eine höhere Pacht erzielt werden.
Das Bundeskartellamt griff den Sachverhalt auf. Es verhängte 2019 in einem Vergleich Geldbußen gegen die Antragsgegnerin. Die Antragsgegnerin habe dem Verbot des § 21 Abs. 2 Nr. 1 GWB zuwidergehandelt, anderen Unternehmen Nachteile anzudrohen, um sie zu einem Verhalten zu veranlassen, das nach § 1 GWB unzulässig ist, und dem Verbot des § 21 Abs. 3 Nr. 2 GWB zuwidergehandelt, andere Unternehmen zu zwingen, sich mit anderen Unternehmen im Sinne des § 37 GWB zusammenzuschließen.Nach den Feststellungen des Bundeskartellamts wollte die Antragsgegnerin mit der Androhung der Kündigung die Antragstellerin dazu bewegen, den Betrieb des zweiten Steinbruchs zukünftig auf der Basis eines Gemeinschaftsunternehmens in Kooperation mit der Wettbewerberin weiterzuführen. Der Zusammenschluss sei darin zu sehen, dass die Antragstellerin nach Beendigung des Pachtvertrages ihre im Steinbruch verwendeten standortspezifischen Betriebsmittel auf den neuen Pächter übertragen werde.
Die Antragsgegnerin leitete im März 2018 ein Schiedsverfahren ein, sprach eine zweite Kündigung aus und beantragte, die Antragstellerin zur Räumung und Herausgabe der Pachtfläche zu verurteilen. Das Schiedsgericht teilte die Bewertung des Bundeskartellamts nicht. Es bestätigte mit Endschiedsspruch vom 27. April 2020 die Wirksamkeit der zweiten Kündigung und verurteilte die Antragstellerin zur Räumung und Herausgabe. Die auf die Feststellung der Unwirksamkeit der Kündigungen gerichtete Widerklage der Antragstellerin wies das Schiedsgericht ab.
Hintergrund: ordre public und révision au fond
Eingeschränkte oder vollumfängliche gerichtliche Kontrolle?
Kern der Entscheidung des Bundesgerichtshofs ist die Frage, ob das Verbot der révision au fond auch bei kartellrechtlichen Sachverhalten greift, mithin, in welchem Umfang der Schiedsspruch einer Überprüfung durch die ordentlichen Gerichte unterliegt. Die Frage wurde in der Rechtsprechung der Oberlandesgerichte unterschiedlich beantwortet (für umfassende Kontrolle z.B. OLG Düsseldorf, Beschluss vom 21. Juli 2004, VI-Sch (Kart) 1/02; dagegen Thüringer Oberlandesgericht, Beschluss vom 8. August 2007 - 4 Sch 03/06).
Das Oberlandesgericht Frankfurt am Main hatte in der Vorinstanz die Auffassung vertreten, dass die Zugehörigkeit der zwingenden Vorschriften des europäischen und deutschen Kartellrechts zum ordre public keine uneingeschränkte kartellrechtliche Überprüfung des Schiedsspruchs rechtfertige. Eine eigene kartellrechtliche Prüfungskompetenz des staatlichen Gerichts sei mit dem Wesen der Schiedsgerichtsbarkeit als privatautonomer Streitentscheidung unvereinbar, weil die Entscheidung der Parteien, die Befugnis zur Streitentscheidung an ein privates Schiedsgericht zu übertragen, unterlaufen würde. Angezeigt sei eine stark eingeschränkte Kontrolle des Schiedsspruchs, die sich auf die Frage einer Missachtung von in den kartellrechtlichen Normen zum Ausdruck gekommenen grundlegenden Wertentscheidungen des Gesetzgebers beschränkt (OLG Frankfurt am Main, 22. April 2021, 26 Sch 12/20, Rn. 77 ff. – Steinbruch-Schiedsspruch).
Dem widerspricht der Bundesgerichtshof. Nach seiner Auffassung unterliegen Schiedssprüche im Hinblick auf die Anwendung der §§ 19 bis 21 GWB in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht einer uneingeschränkten Kontrolle durch das ordentliche Gericht. Damit bleibt der BGH bei der Rechtsauffassung, die er unter der früheren Rechtslage (§ 1041 Abs. 1 Nr. 2 ZPO in der bis zum 31. August 1986 geltenden Fassung) vertreten hatte. So hatte der BGH z. B. in der Entscheidung Schweißbolzen entschieden, dass die ordentlichen Gerichte bei ihrer selbständigen Prüfung, ob die Anerkennung eines Schiedsspruchs gegen die öffentliche Ordnung verstößt, weder an die Rechtsauffassung noch an die tatsächlichen Feststellungen des Schiedsgerichts gebunden sind (vgl. BGH, Urteil vom 25. Oktober 1966 - KZR 7/65 – Schweißbolzen).
Der vollumfänglichen Überprüfung des Schiedsspruchs stehe auch nicht entgegen, dass ein Schiedsspruch nach der Rechtsprechung des BGH nur dann gegen die öffentliche Ordnung verstößt, wenn seine Anerkennung oder Vollstreckung zu einem Ergebnis führt, das mit wesentlichen Grundsätzen des deutschen Rechts „offensichtlich" unvereinbar ist:
"Etwas anderes ergibt sich nicht daraus, dass ein Schiedsspruch nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs nur dann gegen die öffentliche Ordnung verstößt, wenn seine Anerkennung oder Vollstreckung zu einem Ergebnis führt, das mit wesentlichen Grundsätzen des deutschen Rechts „offensichtlich“ unvereinbar ist (...). Denn dies ist der Fall, wenn der Schiedsspruch eine Norm verletzt, die die Grundlagen des staatlichen Lebens regelt, oder wenn er zu deutschen Gerechtigkeitsvorstellungen in einem untragbaren Widerspruch steht (...). Da die Verbote nach §§ 19, 20, 21 GWB zu den elementaren Grundlagen der Rechtsordnung und den grundlegenden Normen des Kartellrechts gehören, widerspricht die Anerkennung oder Vollstreckung des Schiedsspruchs nach diesen Grundsätzen der öffentlichen Ordnung (ordre public) bereits dann, wenn er auf einer fehlerhaften Anwendung dieser Regelungen beruht (..). Die Anerkennung und Vollstreckung eines solchen Schiedsspruchs führte nämlich zu einem Ergebnis, das mit wesentlichen Grundsätzen des deutschen Rechts „offensichtlich“ unvereinbar wäre. Keine Rechtsordnung kann es hinnehmen, dass Verstöße gegen ihre grundlegendsten Normen durch ihre eigenen Gerichte bestätigt werden, unabhängig davon, ob diese Verstöße offenkundig oder offensichtlich sind oder nicht (...). Soweit die Anwendung solcher elementaren Regeln der Rechtsordnung in Rede steht, gilt das Verbot der révision au fond deshalb nicht, so dass eine Überprüfung des Schiedsspruchs in der Sache erforderlich ist."
Zur Begründung seiner Auffassung zieht der Bundesgerichtshof sodann die Gesetzgebungsgeschichte heran:
"Die uneingeschränkte Kontrolle des Schiedsspruchs hinsichtlich solcher kartellrechtlicher Normen, die zu den elementaren Grundlagen des deutschen Rechts gehören, entspricht auch dem Willen des Gesetzgebers. § 91 Abs. 1 Satz 1 GWB in der bis zum Inkrafttreten des Gesetzes zur Neuregelung des Schiedsverfahrensrechts vom 22. Dezember 1997 (...) geltenden Fassung sah vor, dass Schiedsverträge über künftige Rechtsstreitigkeiten aus den dort im Einzelnen genannten Verträgen oder Beschlüssen nichtig sind, wenn sie nicht jedem Beteiligten ein Wahlrecht zwischen Schiedsgericht und ordentlichem Gericht einräumen. Ein Grund für die Aufhebung der Regelung war, dass das Schiedsgericht die (zwingenden) Vorschriften des Kartellrechts in gleicher Weise zu beachten habe wie das staatliche Gericht und dass der Schiedsspruch im Rahmen des Aufhebungs- und des Vollstreckbarerklärungsverfahrens einer Kontrolle durch die staatlichen Gerichte im Hinblick auf die Einhaltung dieser Vorschriften unterliege. Daher führe die Streichung des § 91 GWB nicht zu einer Durchbrechung der generellen Ziele des GWB, nämlich der Sicherstellung des Wettbewerbs und der Beseitigung wirtschaftlicher Macht, wo sie die Wirksamkeit des Wettbewerbs beeinträchtigt (...)."
Der Bundesgerichtshof begründet seine Auffassung schließlich auch mit den komplexen tatsächlichen und rechtlichen Umständen kartellrechtlicher Streitigkeiten und dem Gebot der effektiven Durchsetzung des Kartellrechts. Fände keine vollständige Kontrolle, sondern nur die Prüfung einer offensichtlichen Verletzung kartellrechtlicher Bestimmungen statt, hätte dies in zahlreichen Fällen zur Folge, dass den ordentlichen Gerichten eine sachangemessene, der Komplexität Rechnung tragende Prüfung verschlossen bliebe und das Kartellrecht und die bei seiner Verletzung entstehenden Rechte nicht wirksam durchgesetzt werden könnten:
"Für eine umfassende Überprüfbarkeit der hier in Rede stehenden Verbote nach §§ 19, 20, 21 GWB spricht auch, dass sie nicht nur dem Interesse der Parteien der Schiedsabrede dienen, sondern der Wahrung des öffentlichen Interesses an einem funktionierenden Wettbewerb (...). Ihre effektive Durchsetzung ist bei einer bloßen Evidenzkontrolle des Schiedsspruchs nicht gewährleistet (...). Zur Wahrung des öffentlichen Interesses an einem wirksamen Wettbewerb bestehen anders als im Verfahren vor dem Schiedsgericht umfassende Beteiligungsbefugnisse des Bundeskartellamts (...) in den vor den staatlichen Gerichten geführten Kartellzivilverfahren. Im Unterschied zum staatlichen Gericht ist das Schiedsgericht in dem Fall, dass neben §§ 19, 20, 21 GWB auch Art. 101 AEUV oder Art. 102 AEUV anwendbar sind (vgl. § 22 GWB), grundsätzlich nicht befugt, sich mit einer Vorlagefrage im Hinblick auf die Anwendung der Art. 101 AEUV oder Art. 102 AEUV an den Unionsgerichtshof zu wenden."
Praxisfolgen
Mit der Entscheidung des Bundesgerichtshofs steht fest, dass Schiedssprüche, die auf kartellrechtlichen Streitigkeiten beruhen, durch die ordentlichen Gerichte in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht vollständig überprüfbar sind. Dies hat der BGH unter Rückgriff auf seine Rechtsprechung zur alten Rechtslage bestätigt. Konkretisierend stellt der Bundesgerichtshof fest, dass der ordre public auch das verbotene Verhalten von marktbeherrschenden Unternehmen nach § 19 GWB, das verbotene Verhalten von Unternehmen mit relativer oder überlegener Marktmacht gemäß § 20 GWB und das Boykottverbot sowie das Verbot sonstigen wettbewerbsbeschränkenden Verhaltens aus § 21 GWB umfasst.
Damit unterliegen Schiedssprüche, die ein Schiedsgericht mit Sitz in Deutschland erlassen hat oder die in Deutschland anerkannt und vollstreckt werden sollen, einer berufungsähnlichen Kontrolle durch die ordentliche Gerichtsbarkeit, wenn es für die Entscheidung auf kartellrechtliche Vorschriften ankam.
Vor diesem Hintergrund sollten Vertragsparteien, z. B. bei Abschluss eines Vertriebsvertrages, vor der Vereinbarung einer Schiedsklausel abwägen, ob eine kartellrechtliche Streitigkeit ein möglicher Gegenstand eines Schiedsverfahrens werden könnte. Denn es droht die Gefahr, dass die im Schiedsverfahren unterlegene Partei die Aufhebung beantragt und der Schiedsspruch nicht für vollstreckbar erklärt wird. Nicht immer wird sich das jedoch bei langfristig angelegten Vertragsverhältnissen vorhersehen lassen - der entschiedene Fall ist ein Beispiel dafür: das Pachtverhältnis reicht bis in die sechziger Jahre des letzten Jahrhunderts zurück.
Die Vereinbarung eines ausländischen Sitzes des Schiedsgerichts löst das Problem nicht, wenn der dann ergehende ausländische Schiedsspruch im Inland anerkannt und vollstreckt werden muss.
Besonders "gefahrgeneigt" dürfte die Sportschiedsgerichtsbarkeit sein. Insbesondere in Folge der Pechstein-Rechtsprechung (siehe hier im Blog) liegt die kartellrechtliche Prüfung des Verhältnisses zwischen monopolistischem Sportverband und Athletin häufig nahe.
Schiedsverfahren bringen gegenüber Verfahren vor den ordentlichen Gerichten erhebliche Vorteile mit sich, wie z. B. Flexibilität, Nicht-Öffentlichkeit, Schnelligkeit und internationale Anerkennung von Schiedssprüchen nach der New Yorker Konvention. Wenn allerdings bei kartellrechtlichen Streitigkeiten das Schiedsverfahren nur eine Durchgangsstation ist, gehen diese Vorteile verloren. Eine Steigerung der Beliebtheit des Schiedsstandorts Deutschland ist angesichts dieser Rechtsprechung nicht zu erwarten. In diesem Zusammenhang bleibt abzuwarten, ob das Verbot der révision au fond nicht auch für andere Rechtsgebiete außer Kraft gesetzt wird. Die hier besprochene Entscheidung traf der Kartellsenat des Bundesgerichtshof, und nicht der ansonsten für Schiedssachen zuständige I. Zivilsenat. Es bleibt zu hoffen, dass der I. Zivilsenat in einem geeigneten Fall Gelegenheit zur Klarstellung findet.
tl;dr: Schiedssprüche unterliegen im Hinblick auf die Anwendung der §§ 19 bis 21 GWB in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht einer uneingeschränkten Kontrolle durch das ordentliche Gericht.
Comment on: BGH, decision of September 27, 2022 - KZB 75/21