Der Bundesgerichtshof (Urteil vom 18.01.2023 - IV ZR 465/21) hat entschieden, dass einem Versicherungsnehmer Ansprüche aus einer Betriebsschließungspolice wegen coronabedingter Betriebsschließung zustehen können. Nur auf den ersten Blick steht diese Entscheidung im Widerspruch zum Urteil des BGH aus dem Januar 2022 (BGH, Urteil vom 26.01.2022 - IV ZR 144/21) in dem Ansprüche des Versicherungsnehmers abgelehnt wurden. Die maßgeblichen Erwägungen in der aktuellen Entscheidung betreffen dabei einen Aspekt, der auch außerhalb versicherungsvertraglicher Konstellationen von Bedeutung ist.
Sachverhalt
Eine Hotelbetreiberin konnte wegen der entsprechenden pandemiebedingten Allgemeinverfügungen des Landkreises, die es untersagten, Personen zu touristischen Zwecken in der Zeit vom 18. März bis zum 25. Mai 2020 (erster Lockdown) und ab dem 02. November 2020 (zweiter Lockdown) zu beherbergen, entsprechende Übernachtungen während der Lockdowns nicht anbieten. Sie begehrte auf Grundlage ihrer Betriebschließungspolice im Verfahren gegen den Versicherer aufgrund der teilweisen Einstellung des Hotelbetriebs während des ersten Lockdowns Entschädigungsleistungen sowie die Feststellung, dass der Versicherer verpflichtet ist, ihr den aus der erneuten Schließung ab dem 2. November 2020 entstandenen Schaden zu ersetzen. Die in diesem Fall maßgeblichen "Bedingungen für die Betriebsschließungs-Pauschalversicherung Gewerbe (BBSG 19)" verwiesen dabei im Rahmen der Leistungsbeschreibung mehrfach auf §§ 6, 7 des Infektionsschutzgesetzes (IfSG) und die dort namentlich genannten Krankheiten und Krankheitserreger, allerdings ohne dabei eine bestimmte Gesetzesfassung des IfSG zu nennen.
Entscheidung
Der BGH stellte fest, dass die streitgegenständlichen Versicherungsbedingungen aus Sicht des Versicherungsnehmers mit Blick auf die Bezugnahme auf das IfSG mangels Angabe einer konkreten Gesetzesfassung oder eines Zeitpunkts einerseits eine Auslegung dahingehend zuließen, dass der Zeitpunkt des Eintritts des Versicherungsfalles maßgeblich wäre. Andererseits könne die Bezugnahme auch derart verstanden werden, dass es auf die zum Zeitpunkt des Vertragsschlusses geltende Fassung der §§ 6 und 7 IfSG und die dort aufgeführten Krankheiten und Krankheitserreger ankomme. Da die Krankheit COVID-19 und der Krankheitserreger SARS-CoV-2 erst mit Inkrafttreten des Zweiten Gesetzes zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite vom seit dem 23. Mai 2020 im IfSG namentlich genannt werden, stehe der Versicherungsnehmerhin damit zwar für den ersten Lockdown eine Entschädigungsleistung nicht zu. Im Zeitpunkt der ersten Betriebsschließung durch die Allgemeinverfügung vom 18. März 2020 fehlte es an der in den Versicherungsbedingungen vorausgesetzten namentlichen Nennung der Krankheit oder des Krankheitserregers in den §§ 6 und 7 IfSG. Die von der Versicherungsnehmerhin begehrte Feststellung der Leistungspflicht des Versicherers während des zweiten Lockdowns sei hingegen begründet, denn in Anwendung der Unklarheitenregel des § 305c Abs. 2 BGB könne eine Beschränkung des Leistungsversprechens des Versicherers auf den Rechtszustand im Zeitpunkt des Vertragsschlusses zu Lasten der Versicherungsnehmerin gerade nicht angenommen werden. Die Unklarheit der Vertragsbedingung gehe vielmehr zu Lasten des Verwenders. Auf Grund der Tatsache, dass zum Zeitpunkt der zweiten Betriebsschließung COVID-19 bzw. SARS-CoV-2 im Katalog der §§ 6, 7 IfSG aufgeführt waren, erstrecke sich das Leistungsversprechen des Versicherers für den zweiten Lockdown auch auf ebenjene Krankheiten und Erreger.
Bedeutung
Wie bereits angemerkt, steht die aktuelle Entscheidung nicht im Widerspruch zur Entscheidung des Bundesgerichtshofs aus dem Januar des vergangenen Jahres. Dort hatte der BGH geurteilt, dass jedenfalls in den Fällen, in denen die Versicherungsbedingungen einen abschließenden Katalog meldepflichtiger Krankheiten beinhalten, der COVID-19 bzw. SARS-CoV-2 nicht aufführt, auch keine Leistungspflicht des Versicherers im Fall von coronabedingter Betriebsschließungen bestehe. Es kommt also – eine juristische Binsenweisheit – regelmäßig auf das konkrete Vertragswerk an.
Die jüngste Entscheidung des Bundesgerichtshofs ist jedoch auch abseits des Themenfeldes „Betriebsschließungsversicherung“ von Interesse. Allgemeine Geschäftsbedingungen enthalten nicht selten Verweise auf gesetzliche Regelungen und Bestimmungen. Derartige Verweise beinhalten dabei häufig gerade keine eindeutige Bezugnahme auf eine bestimmte (zum Zeitpunkt des Vertragsschlusses geltende) Fassung der in Bezug genommenen gesetzlichen Regelung. Vor dem Hintergrund der Entscheidung des BGH könnte es sich – jedenfalls soweit ein solcher Verweis mittelbar das Leistungsversprechen des Klauselverwenders betrifft – anbieten zu prüfen, ob diese Praxis im konkreten Fall aufrechterhalten werden soll. Es besteht jedenfalls ein Risiko, dass es ohne entsprechende Konkretisierung zu einer „dynamischen“, den Leistungsumfang des Verwenders unter Umständen ausdehnenden, Auslegung kommt.