Am 30.06.2016 (RS C-634/15) hat der Europäische Gerichtshof eine Entscheidung getroffen, die das österreichische Apothekenkonzessionswesen in seinen Grundfesten berührt. Mit diesem Schreiben informieren wir über die wesentlichen Eckpunkte dieser Entscheidung:
1. Der Hintergrund:
Schon in seiner Entscheidung vom 13.02.2014 (RS C-367/12) hatte der Europäische Gerichtshof ausgesprochen, dass das starre Festhalten des österreichischen Apothekengesetzes an einer Versorgungsgrenze von 5.500 zu versorgenden Personen dem Unionsrecht widerspricht. In seiner Begründung führte der Europäische Gerichtshof an, dass eine solch starre Grenze gerade im ländlichen Bereich die Neuerrichtung von Apotheken verhindere. Die starre Grenze führt nach Ansicht des Gerichtshofs zu der Gefahr einer "Unterversorgung" der Einwohner im ländlichen Bereich (insbesondere bei Menschen mit eingeschränkter Mobilität); es bestehe die Gefahr, dass für solche Personen kein angemessener Zugang zu Apothekendienstleistungen sichergestellt ist. Der Europäische Gerichtshof sprach daher aus, dass das Unionsrecht (Art 49 AEUV) einer nationalen Rechtslage entgegensteht, die die Prüfung des Bedarfs an einer neu zu errichtenden Apotheke an einer starren Grenze von "weiterhin zu versorgenden Personen" festlegt (so wie es das österreichische Apothekengesetz vorsieht), ohne dass es der Behörde erlaubt ist, von dieser starren Grenze abzuweichen und örtliche Besonderheiten zu berücksichtigen.
Der österreichische Verwaltungsgerichtshof interpretierte dieses Erkenntnis in der Folge derart, dass die starre Versorgungsgrenze von 5.500 zu versorgenden Personen nur bei Bedarfsprüfungen in ländlichen bzw abgelegenen Regionen nicht zur Anwendung gelangen darf. Daraufhin rief das Verwaltungsgericht des Landes Oberösterreich den Europäischen Gerichtshof neuerlich an und ersuchte um Klarstellung, ob die angesprochene starre Versorgungsgrenze nur in ländlichen / abgelegenen Regionen oder generell keine Anwendung finden darf.
2. Das Erkenntnis:
In seinem hierauf am 30.06.2016 erlassenen Beschluss führt der Europäische Gerichtshof aus, dass er mit seiner Bezugnahme auf ländliche oder abgelegene Regionen und auf Menschen mit eingeschränkter Mobilität die Tragweite seiner Entscheidung zum Ausdruck bringen wollte, nicht jedoch wollte er seine Entscheidung auf diese Art von Regionen und auf diese Art von Personen begrenzen. Um die kohärente und systematische Erreichung des Ziels einer sicheren und hochwertigen Versorgung der Bevölkerung mit Arzneimitteln zu gewährleisten, müsse es möglich sein, die Besonderheiten des Einzelfalls zu prüfen. Mit einer starren Grenze könne die Zielerreichung nicht in allen Fällen gewährleitet werden. Die "Inkohärenz" bei der Verfolgung des Ziels sei bei einer starren Grenze systemimmanent.
3. Die Folgen:
Zusammengefasst kann festgehalten werden:
Nach Ansicht des Europäischen Gerichtshofes darf die starre Versorgungsgrenze von 5.500 zu versorgenden Personen in ihrer bisherigen Allgemeinheit keine Anwendung mehr finden.
Das bedeutet jedoch nicht, dass der Europäische Gerichtshof der apothekenrechtlichen Bedarfsprüfung in Österreich eine grundsätzliche Absage erteilt. Auch ist der Entscheidung nicht zu entnehmen, dass Bedarfsprüfungskriterien, die etwa an der Zahl zu versorgender Personen festmachen, generell unionsrechtswidrig wären. Allerdings darf es sich bei diesem Bedarfsprüfungskriterium nicht um eine starre Grenze handeln, die der Behörde keine abweichenden Beurteilungen ermöglicht.
§ 10 Apothekengesetz sieht generell vor, dass ein Bedarf an einer angesuchten Apotheke nicht besteht, wenn "die Zahl der von der Betriebsstätte einer der umliegenden bestehenden öffentlichen Apotheken aus weiterhin zu versorgenden Personen sich in Folge der Neuerrichtung verringert und weniger als 5 500 betragen wird". Seit 03.06.2016 darf diese Grenze aber gemäß § 10 Abs 6a Apothekengesetz unterschritten werden, wenn dies in ländlichen und abgelegenen Regionen auf Grund besonderer örtlicher Verhältnisse im Interesse einer ordnungsgemäßen Arzneimittelversorgung der Bevölkerung unter Berücksichtigung des Versorgungsangebots durch bestehende Apotheken einschließlich Filialapotheken und ärztlichen Hausapotheken dringend erforderlich ist. Die Novelle 2016 war eine Folge der EuGH-Entscheidung vom 13.02.2014.
Als Folge des nunmehrigen Beschlusses des Europäischen Gerichtshofs darf nun die starre Bedarfsgrenze von 5.500 zu versorgenden Personen generell, dh auch abseits der Ausnahme des § 10 Abs 6a Apothekengesetz, von den Behörden in dieser Form nicht mehr angewendet werden. Das bedeutet aber nicht, dass diese Grenze den Behörden nicht weiterhin als Gradmesser für den Bedarf nach einer neuen Apotheke dienen darf. Sie darf jedoch nicht mehr als ein starres Beurteilungskriterium verstanden werden, welches der Behörde keinerlei Abweichen in ihrer Beurteilung des Bedarfs erlaubt. Vielmehr werden künftig bei den Bedarfsprüfungen die allfälligen Besonderheiten der konkreten Situation mit zu berücksichtigen sein bzw ist § 10 Abs 6a Apothekengesetz auch in anderen als "in ländlichen und abgelegenen Regionen" anzuwenden.