§ 84 Abs. 2 SGB IX verpflichtet jeden Arbeitgeber ein betriebliches Eingliederungsmanagement (kurz: bEM) durchzuführen, wenn ein Beschäftigter im letzten Jahr mehr als sechs Wochen arbeitsunfähig erkrankt war. Das bEM dient der Klärung, wie die Arbeitsunfähigkeit möglichst überwunden und mit welchen Leistungen oder Hilfen einer erneuten Arbeitsunfähigkeit vorgebeugt sowie der Arbeitsplatz erhalten werden kann. Das Gesetz benennt zwar die Voraussetzungen, die Ziele und die Beteiligten des bEM, lässt dem Arbeitgeber aber Gestaltungsspielraum bei der Durchführung des bEM.

Das Bundesarbeitsgericht (BAG) hat in der Entscheidung vom 20.11.2014 (Az.: 2 AZR 755/13) die Gelegenheit genutzt, eine konkrete Handlungsanleitung für das ordnungsgemäße Angebot eines bEM aufzustellen.

I. Einleitung

Ohne ein ordnungsgemäßes bEM und ein entsprechendes Angebot zur Durchführung eines bEM gegenüber dem betroffenen Mitarbeiter ist eine wirksame krankheitsbedingte Kündigung im Anwendungsbereich des Kündigungsschutzgesetzes praktisch ausgeschlossen. Das bEM ist zwar theoretisch keine Wirksamkeitsvoraussetzung für eine krankheitsbedingte Kündigung. Praktisch legt das BAG die Messlatte für die Darlegung und den Beweis des Arbeitgebers, dass die Kündigung verhältnismäßig sei, aber so hoch, dass eine wirksame krankheitsbedingte Kündigung ohne ein ordnungsgemäßes bEM-Angebot und bei Zustimmung des Beschäftigten ohne ein erfolglos durchgeführtes bEM-Verfahren ausgeschlossen erscheint.

In der hier besprochenen Entscheidung hat das BAG die Frage beantwortet, wie detailliert ein ordnungsgemäßes bEM-Angebot sein muss.

II. Sachverhalt

Gegenstand der Entscheidung des BAG war eine ordentliche krankheitsbedingte Kündigung eines nicht schwerbehinderten Arbeitnehmers. Das beklagte Unternehmen entwickelt und vertreibt Hygieneartikel. Der Arbeitnehmer war dort seit 1991 als Maschinenführer tätig und in den Jahren von 2006 bis 2011 wegen unterschiedlicher Erkrankungen jeweils mehr als sechs Wochen pro Jahr arbeitsunfähig. Vor Ausspruch der Kündigung war der Arbeitnehmer mehrfach vom Betriebsarzt des Unternehmens untersucht worden, der festgestellt hatte, dass gegen eine Beschäftigung des Arbeitnehmers keine gesundheitlichen Bedenken bestünden. Der Arbeitnehmer hat sich im Kündigungsschutzverfahren darauf berufen, dass der Arbeitgeber kein bEM durchgeführt habe.

III. Die Entscheidung des BAG

Ebenso wie die Vorinstanzen hielt das BAG die Kündigung für unverhältnismäßig und daher für unwirksam. Es handele sich um eine Kündigung wegen häufiger Kurzerkrankungen.

Im Rahmen der dreistufigen Prüfung krankheitsbedingter Kündigungen lägen auf der ersten Stufe zwar ausreichende Anhaltspunkte für eine negative Gesundheitsprognose vor, hierzu reichten die erheblichen Fehlzeiten in der Vergangenheit aus.

Auch die zweite Stufe, d. h. die erhebliche Beeinträchtigung betrieblicher Interessen, hat dasBAG im Streitfall unterstellt.

An der dritten Stufe der Interessenabwägung ließ das BAG die Kündigung jedoch scheitern. Die Kündigung sei nicht „ultima ratio“ und deshalb unverhältnismäßig. Die Beklagte habe das gesetzlich vorgesehene bEM unterlassen, ohne dass sie dargelegt hätte, dass es im Kündigungszeitpunkt kein milderes Mittel als die Kündigung gegeben habe, um weitere Fehlzeiten zu vermeiden oder zu verringern.

Die Beklagte war gemäß § 84 Abs. 2 Satz 1 SGB IX verpflichtet, ein bEM vorzunehmen. Der Kläger war in jedem der letzten drei Jahre vor Zugang der Kündigung länger als sechs Wochen wegen Krankheit arbeitsunfähig. Dafür kommt es auf die Gesamtheit der Fehltage und nicht darauf an, ob einzelne durchgehende Krankheitsperioden den Zeitraum von sechs Wochen überschritten. Die Durchführung eines bEM setzt auch nicht voraus, dass bei dem betroffenen Arbeitnehmer eine Behinderung vorliegt.

Die Durchführung eines bEM ist auf verschiedene Weisen möglich. § 84 Abs. 2 SGB IX schreibt weder konkrete Maßnahmen noch ein bestimmtes Verfahren vor. Das bEM ist ein rechtlich regulierter verlaufs- und ergebnisoffener „Suchprozess“, der individuell angepasste Lösungen zur Vermeidung zukünftiger Arbeitsunfähigkeit ermitteln soll. Allerdings lassen sich aus dem Gesetz gewisse Mindeststandards ableiten. Zu diesen gehört es, das Einverständnis des Arbeitnehmers vorausgesetzt, dass die gesetzlich dafür vorgesehenen Stellen, Ämter und Personen beteiligt werden.

Ziel des bEM ist es festzustellen, aufgrund welcher gesundheitlichen Einschränkungen es zu den bisherigen Ausfallzeiten gekommen ist, und herauszufinden, ob Möglichkeiten bestehen, sie durch bestimmte Veränderungen künftig zu verringern, um so eine Kündigung zu vermeiden. § 84 Abs. 2 Satz 1 SGB IX konkretisiert damit den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz. Mit Hilfe des bEM können möglicherweise mildere Mittel als die Kündigung erkannt und entwickelt werden. Mildere Mittel können insbesondere die Umgestaltung des bisherigen Arbeitsbereichs oder die Weiterbeschäftigung des Arbeitnehmers auf einem anderen leidensgerechten Arbeitsplatz sein. Darüber hinaus kann sich aus dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit die Verpflichtung des Arbeitgebers ergeben, dem Arbeitnehmer vor einer Kündigung die Chance zu bieten, ggf. spezifische Behandlungsmaßnahmen zu ergreifen, um dadurch die Wahrscheinlichkeit künftiger Fehlzeiten auszuschließen.

Nach der Gesetzesbegründung (BT-Drs. 15/1783 S. 16) soll durch eine derartige Gesundheitsprävention das Arbeitsverhältnis möglichst dauerhaft gesichert werden. Zugleich sollen auf diese Weise medizinzische Rehabilitationsbedarfe frühzeitig, ggf. präventiv erkannt und auf die beruflichen Anforderungen abgestimmt werden. Kommen Leistungen zur Teilhabe oder begleitende Hilfen im Arbeitsleben in Betracht, hat der Arbeitgeber deshalb gemäß § 84 Abs. 2 Satz 4 SGB IX auch bei nicht behinderten Arbeitnehmern die örtlichen gemeinsamen Servicestellen hinzuzuziehen. Als Hilfen zur Beseitigung und möglichst längerfristigen Überwindung der Arbeitsunfähigkeit kommen dabei – neben Maßnahmen zur kurativen Behandlung – auch Leistungen zur medizinischen Rehabilitation i. S. v. § 26 SGB IX in Betracht.

Es ist Sache des Arbeitgebers, die Initiative zur Durchführung des bEM zu ergreifen. Das BAGhat in dieser Entscheidung die folgenden konkreten Vorgaben für die Formulierung einesBEM-Angebots aufgestellt:

  • Der Arbeitgeber muss den Arbeitnehmer auf die Ziele des bEM hinweisen (§ 84 Abs. 2 Satz 3SGB IX). Dies erfordert eine Darstellung, die inhaltlich über eine bloße Bezugnahme auf die Vorschrift des § 84 Abs. 2 Satz 1 SGB IX hinausgeht. Zu diesen Zielen rechnet die Klärung, wie die Arbeitsunfähigkeit möglichst überwunden, erneuter Arbeitsunfähigkeit vorgebeugt und wie das Arbeitsverhältnis erhalten werden kann.
  • Dem Arbeitnehmer muss verdeutlicht werden, dass es um die Grundlagen seiner Weiterbeschäftigung geht und dazu ein ergebnisoffenes Verfahren durchgeführt werden soll, in das auch er Vorschläge einbringen kann.
  • Daneben ist ein Hinweis zur Datenerhebung und Datenverwendung erforderlich, der klarstellt, dass nur solche Daten erhoben werden, deren Kenntnis erforderlich ist, um ein zielführendes, der Gesundung und Gesunderhaltung des Betroffenen dienendes bEM durchführen zu können. Dem Arbeitnehmer muss mitgeteilt werden, welche Krankheitsdaten – als sensible Daten i. S. v. § 3 Abs. 9 BDSG – erhoben und gespeichert und inwieweit und für welche Zwecke sie dem Arbeitgeber zugänglich gemacht werden.

Im Streitfall fehlte es schon an einer solchen, den gesetzlichen Anforderungen genügenden Unterrichtung und Belehrung des Klägers.

Die betriebsärztlichen Untersuchungen des Klägers waren für ein ordnungsgemäßes bEM nicht ausreichend. Der Betriebsarzt werde in § 84 Abs. 2 Satz 2 SGB IX zwar als ein Akteur erwähnt, der „bei Bedarf“ zum bEM hinzugezogen wird. Dies entspreche der Aufgabe des Arztes, den Arbeitgeber beim Arbeitsschutz und bei der Unfallverhütung zu unterstützen und in Fragen des Gesundheitsschutzes zu beraten. Die Nutzung seines Sachverstands könne der Klärung dienen, ob vom Arbeitsplatz Gefahren für die Gesundheit des Arbeitnehmers ausgehen und künftig durch geeignete Maßnahmen vermieden werden können (§ 3 Abs. 1 Satz 2 ASiG). Die Inanspruchnahme des betriebsärztlichen Sachverstands stehe einem bEM als Ganzem aber nicht gleich.

Der Beklagten sei es auch nicht gelungen, die objektive Nutzlosigkeit eines BEM darzulegen. Insbesondere habe sie nicht dargetan, dass auch bei regelkonformer Durchführung eines BEMkeine geeigneten Leistungen oder Hilfen für den Kläger hätten erkannt werden können, zu deren Erbringung die Rehabilitationsträger verpflichtet gewesen wären.

IV. Praxishinweis

Will ein Arbeitgeber eine Kündigung wegen häufiger Kurzerkrankungen oder lang andauernder Arbeitsunfähigkeit erklären, ist die vorherige ordnungsgemäße Durchführung eines bEM praktisch unerlässlich.

Da die Durchführung eines bEM von der Zustimmung des Arbeitnehmers abhängt, steht es einer krankheitsbedingten Kündigung zwar nicht entgegen, wenn der Arbeitnehmer das bEM abgelehnt hat. Dies gilt aber nur, wenn das Angebot des Arbeitgebers, ein bEM durchzuführen, der Handlungsanleitung des BAG entsprach.

Es empfiehlt sich daher, schon das erste Angebot zur Durchführung eines bEM schriftlich zu formulieren und darin – den o. g. Vorgaben des BAG entsprechend – detailliert auf die Ziele des bEM sowie auf Art und Umfang der hierfür erhobenen und verwendeten Daten hinzuweisen.